"Zögerliche Haltung bei KI sehe ich nicht"
KI kann Texte aus einem 2.000 Jahre alten Klumpen Kohlenstoff rekonstruieren. Da wäre es doch gelacht, würden Unternehmen nichts mit künstlicher Intelligenz anfangen können. Ideen für den produktiven Einsatz braucht es schon. Andre Kiehne liefert sie – und setzt auf Partner.
Eine pyroklastische Wolke hatte beim Ausbruch des Vesuvs alles Leben und organisches Material in der antike Stadt Herculaneum ausgelöscht. Uralte Schriften wurden von der 400 Grad heißen Wolke zu Kohlenstoffklumpen verbacken. Man hat sie im 18 Jahrhundert entdeckt, aber erst vergangenes Jahr gelang es jungen Forschern, aus den Überresten tatsächlich erste Textpassagen zu rekonstruieren. Ein Teilchenbeschleuniger hatte Schicht für Schicht hochauflösende Röntgenaufnahmen angefertigt. Der 27-jährige Robotik-Student Youssef Nader von der FU Berlin ließ eine KI Muster so trainieren, dass sie Buchstabe für Buchstabe eine für immer zerstört geglaubte antiken Papyrusrolle zu einem Text zusammensetzte. Er gewann damit, zusammen mit Luke Farritor und Julian Schilliger, kürzlich das Preisgeld von 700.000 Dollar, das Investoren aus dem Silicon Valley im Rahmen der im März vergangenen Jahres ausgelobten Vesuvius Challenge gestiftet hatten. Der "Schatz aus der Asche" (Die Zeit) könnte unser Wissen über die Antike grundlegend verändern.
KI hat das Potenzial, unser Wissen in allen Bereichen zu revolutionieren. Wie und wo? An dystopischer Phantasie im Zusammenhang mit technologischen Möglichkeiten hat es dem modernen Menschen noch nie gefehlt. Viel Science Fiktion ist ja auch bittere Realität geworden. Und dann gibt es noch die Realität des Jahres 2024: G Data-Manager Tim Berghof erhält ein Schreiben einer örtlichen Sparkasse, beigelegt ein USB-Stick, auf dem der geneigte Kunde das Preis- und Leistungsverzeichnis, die AGB "und weitere Bedingungen" findet. Herzlich lachen musste er, der Security-Experte.
Schnelle Adaption - Beratung gefragt
Video-Call mit Andre Kiehne, Gründer und Geschäftsführer von digital.fwd. Mit Teilchenbeschleuniger und KI zwecks Mustererkennung hatte er sich noch nicht beschäftigt. Die Kunden seines Start-ups kommen aus dem Maschinenbau, aus der chemischen Industrie, Autozulieferer, Softwareanbieter und IT-Dienstleister. Kiehne und sein Team beraten sie bei der digitalen Transformation und seit letztem Jahr auch verstärkt beim Einsatz von künstlicher Intelligenz. "Ich stelle ein großes Interesse an KI fest, es gibt aber noch viele Fragezeichen und relativ wenig Vorwissen", sagt er.
Viele Unternehmen kämpften noch mit ihrer Digitalisierung, mit KI würde nun die nächste Welle an Innovationen auf sie zurollen. Anders aber als beim letzten großen Innovationszyklus mit Cloud Computing, wo nicht nur Kunden, sondern vor allem auch IT-Dienstleister bremsten, rechnet Kiehne bei KI mit einer viel schnelleren Adaption. "Eine zögerliche Haltung bei KI sehe ich nicht", sagt er.
Kiehne und sein Beraterteam rennen durchaus offene Türen bei Unternehmen ein. Sie schauen sich die Prozesse an, identifizieren gemeinsam mit den Mitarbeitenden der Unternehmen potenzielle Use Cases, machen sich Gedanken, wie KI in die Umsetzung und schließlich in den Betrieb kommen könnte. Ein KI-Fitness-Center soll die Grundlagen schaffen, damit Unternehmen ihre Prozesse beschleunigen können und somit die Produktivität steigern. Manchmal geht es um scheinbar einfache Aufgaben, wie eine schnellere Angebotserstellung. Im Detail kann es aber schwieriger werden, wenn Datensilos aufgebrochen und Systeme zusammengeführt werden müssen. Jedes Projekt ist individuell. Gemeinsam sind allen aber, wie die Berater von Kiehnes digital.fwd an Projekte herangehen. "Wir bringen Menschen und die Technologie zusammen", sagt Kiehne. Jedes Digitalisierungs- und erst recht KI-Projekt funktioniert nur mit und nicht gehen die Mitarbeitenden in den Fachabteilungen. Von oben verordnete IT-Systeme stoßen oft auf Ablehnung und bereichern die Statistik vieler gescheiteter Modernisierungen.
"KI Managed Services"
Sind Grundlagen und individueller Einsatz geklärt, erste Systemintegrationen durchgeführt, komme die Frage nach dem IT-Betrieb auf. Skalieren über "Managed Services" liegt nahe. Kiehne kennt das Modell sehr gut, er war schließlich 6 Jahre bei Microsoft Deutschland und hat das Lösungsgeschäft und später die Partner-Organisation geleitet. So zählen auch IT-Dienstleister Digatus IT Group aus München und Cloud-Spezialist Atlantic Ventures aus Anatal zu Kunden und Partnern von digital.fwd aus Landshut.
Kiehnes Vision eines "KI Managed Services", basierend auf einem KI-Industrie-Standard, würde dem Wunsch vieler Kunden nach einem externen Betreibermodell wohl nahekommen. Eine KI-Standardisierung samt Betrieb "as-a-Service" setzt freilich eingeübte Prozesse für ähnliche Anwendungsszenarien voraus. Zum jetzigen Zeitpunkt, wo KI sich noch als Kostensenker und Treiber effizienterer und schnellerer Unternehmensprozesse beweisen muss, wollen IT-Entscheider erst noch vom Nutzen überzeugt werden.
Das aber kann schneller gehen als mancher Systemhaus-Chef denkt, der KI für überschätzt hält. Es hat zwei Jahrtausende gedauert, bis eine bahnbrechende Technologie verborgenes Potential in verkohlten Schriftstücken binnen nicht einmal einem Jahr freigelegt hat, wie die Vesuvius Challenge zeigt. Archäologen vermuten, dass die Villa in Herculaneum, wo man nur wenige Überreste der karbonisierten Bücher fand, eine große Bibliothek hatte, die unter einer 30 Meter hohen Gesteinsschicht liegt. Der von KI zu entschlüsselnde Schatz aus der Asche könnte riesig sein.